Wachau Magazin 2022

70 | WA C H A U M A G A Z I N 2 0 2 2 s scheint, als würden sie vorsichtig ihre Fühler ausstrecken, um zu ertasten, wen sie als erstes wachkitzeln sollen. Die noch milden Sonnenstrahlen, die einen prächti- gen Herbsttag ankündigen, werden hier in der Ried Klaus schnell fündig. Es sind die Rebstöcke in exponierter Hanglage, denen es schon warm ums Blatt und hell um die Traube wird, wenn unten im Tal noch die Schatten wie dunkle Decken über den Weingärten liegen. Da lacht auch Dr. Herwig Jamek das Herz, dem Inhaber des gleichnamigen Weinguts in Joching. Denn die Lese in den 180 Terrassen der Ried Klaus, die ohne Maschinen ausschließlich händisch erfol- gen kann, ist schon in der Vorbereitung absolute Präzisionsarbeit. Noch ehe der erste des 16-köpfigen Teams an diesemTag den Vorwärtsgang in die Wein- gärten einlegt, liegen schon Wetterberichts-Studien sowie zahlreiche Zucker- und Säuremessungen bei den Trauben im Rückspiegel. Es ist mehr ein kon- stantes Lauern als ein exaktes Planen, das dem Er- wischen des optimalen Lesezeitpunktes vorangeht. Bunte Vielfalt von Erntehelfern Eine illustre Schar macht sich an diesem Prachttag an die schweißtreibende Arbeit. Von der 16-jährigen Praktikantin Anna Höllmüller, Schülerin der Wein- bauschule Krems, bis zu zwei ehemaligen Mitarbei- terinnen des gutseigenen Restaurants. Wer einmal im Weingarten war, will immer wieder dorthin, und die beiden Damen haben schon in ihrer aktiven Be- rufszeit jahrelang auch bei Lese und Grünpflege ge- holfen: »Das ist bei uns üblich. Alle werden bei der Einstellung gefragt, ob sie im Bedarfsfall auch im Weingarten mithelfen. Bei 25 Hektar brauchst du jede Hand, und für die Angestellten hat das den Vor- teil, dass wir sie auch in der ruhigeren Zeit voll weiterbeschäftigen können«, erklärt Herwig Jamek. Auch zwei junge Südafrikaner, die in ihrer Heimat gerade das Weinbau-Studium abgeschlossen haben, packen an diesem Tag mit an. Diese Praktikanten aus anderen Ländern liegen Jamek sehr am Herzen: »Es geht bunt zu bei uns, und bunt will ich es haben. Außerdem lernt man von allen Praktikanten etwas, weil die mit einer anderen Perspektive zu uns kommen und auch andere Fragen stellen.« »Sein oder nicht sein« gilt sogar für Trauben Hier oben auf den Terrassen, während der Ernte, ist nur Raum für knappe Fragen in den Lese-Teams, denen immer erfahrene Weingarten-Routiniers vor- stehen. »Nehmen oder wegwerfen?« ist dabei die am häu- figsten gestellte, wenn eine Beere nicht idealtypisch grün aussieht. Da ist die richtige Antwort entschei- dend, denn es kann sich um eine vom Botrytis-Pilz ausgelöste Edelfäule handeln, die die Traubenbeere wertvoll macht. Es könnte aber ebenso die Spätfolge des Besuchs der Essigfliege sein, und dann darf diese Traube auf keinen Fall in den Korb. Schlam- pigkeit wäre fatal. Bei diesem hohen Qualitätsan- spruch geht es immer um penible, konzentrierte Arbeit, auch wenn allmählich die körperliche An- strengung zu spüren ist und sich so mancher Mus- kel bemerkbar macht. 15 (!) Kilometer Wegstrecke pro Lesetag Zwei bis drei kräftige Burschen sind auf den Terras- sen für die anstrengendste Arbeit eingeteilt, nämlich auf den 200 Höhenmetern beständig die prall gefüll- ten Traubenkörbe wegzutragen und zu entleeren. Einer von ihnen, Georg Springinsfeld, hat diese Ar- beit aus Interesse einmal mit einem Kilometerzäh- ler erledigt und kam auf einen Schnitt von 15 Kilo- E Auch Chefin Dr. Julia Jamek packt mit an, wenn in der Ried Klaus die Lese ansteht. Sie arbeitet als Ärztin, hat den Weinbau aber quasi in den Genen. Regelmäßiger Helfer bei der »steilen Lese« ist auch Andreas Lutzmann, der normalerweise als Sommelier in einem Tiroler Hotel arbeitet. In der Ried Klaus wachsen feinglied- rige Rieslinge, intensiv duftend nach saftiger Ma- rille und frischer Minze mit klarem Terroir-Bouquet. Im Bild: Riesling Smaragd vom Weingut Jamek.

RkJQdWJsaXNoZXIy NzA5MzY2